»Made by Haydn?«
fragen in ihren Studien zu Joseph Haydn fälschlich zugeschriebenen Werken Prof. Dr. Arnold Jacobshagen (Hochschule für Musik und Tanz Köln, Institut für Historische Musikwissenschaft) und die ProjektmitarbeiterInnen Dr. Susanne Schrage, Silke Schloen und Ioannis Tsiliakis. Fehlzuschreibungen bilden eine Konstante in der Überlieferung der Werke Joseph Haydns. Geläufige Vorstellungen über den Komponisten wurden durch fremde Werke mitgeprägt, etwa die Streichquartette „op. 3“, die Kindersinfonie oder die sechs Feldpartien, denen Johannes Brahms irrtümlich die Melodie für seine „Variationen über ein Thema von Joseph Haydn“ entnahm. Bereits Haydn selbst war sich der Tatsache bewusst, dass viele Kompositionen fälschlich unter seinem Namen zirkulierten. In dem Vorwort, das er zu den 1799–1806 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig erschienenen „Oeuvres complettes de Joseph Haydn“ beisteuerte, versicherte er, dafür zu sorgen, „dass in diese Sammlung nichts aufgenommen werde, was bisher unrechtmäßig meinen Namen geführt hat“.
Das für drei Jahre (2023-2026) von der Fritz Thyssen Stiftung bewilligte Forschungsprojekt „Made by Haydn?“ untersucht die rund 1.300 bislang bekannten Joseph Haydn fälschlich zugeschriebenen Werke. Im Rahmen des Projekts werden alle verfügbaren Informationen zu den Fehlzuschreibungen nach Gattungen geordnet in einer Datenbank gesammelt. Die Bestandsaufnahme basiert in erster Linie auf den jahrzehntelangen Vorarbeiten des Joseph Haydn-Instituts Köln, wo alle Werke, die Haydn in einer Quelle oder in einem alten Katalog zugeschrieben sind, erfasst wurden. In ganz ähnlicher Weise ging Anthony van Hoboken vor, der in seinem Werkverzeichnis die nicht-authentischen Werke durch die Voranstellung des Tonart-Buchstabens vor der WV-Nummer von den echten Werken unterschied. Ergänzend herangezogen werden die im RISM-Katalog und in den OPACs der Bibliotheken gesammelten Quellen-Informationen sowie Werkverzeichnisse anderer Komponisten. Ziel des Projektes ist es, durch eine detailliertere Untersuchung Schwerpunkte und Mechanismen von Fehlzuschreibungen herauszuarbeiten, etwa die Verteilung auf die einzelnen Gattungen oder geographische Zentren. Die Ergebnisse sollen in Zusammenarbeit mit der Digitalen Akademie an der Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz in einer Online-Datenbank zugänglich gemacht werden.
Indem das Projekt die Frage der „Echtheit“ der Haydn zugeschriebenen Werke und damit die historisch-kulturellen Ein- und Ausschlussmechanismen bei der Konstruktion musikalischer Autorschaft problematisiert, rekurriert es auf die in der Musikwissenschaft etablierten philologischen Methoden der Quellenkritik und reflektiert zugleich die in der jüngeren kulturwissenschaftlichen Theoriebildung vollzogene Distanzierung von der Vorstellung eines „absoluten“ Autorbegriffs. Komplementär zu der im Rahmen der Haydn-Gesamtausgabe geleisteten autorzentrierten Editionsarbeit fördert das Projekt eine Vielzahl bislang namentlich nicht bekannter Urheber zutage und gibt Auskunft über die Entstehungs-, Aufführungs- und Distributionsbedingungen von Musikwerken unterschiedlicher Genres und Provenienzen.
Joseph Haydn wird oft als Beispiel genommen, um die absichtliche und massenhafte Fehlzuschreibung an einen berühmten Komponisten im 18. Jahrhundert zu belegen. Die empirische Auswertung der Daten zu den Instrumentalwerken stellt die Zahlen in einen größeren Zusammenhang. Für die Sinfonien beispielweise erweist sich die Annahme, Verlage hätten die Werke unbekannterer Komponisten durch eine Zuschreibung an den berühmten Haydn attraktiver für den Verkauf gestalten wollen, als nicht belegbar. Die Anzahl der fehlzugeschriebenen Drucke ist wesentlich geringer als diejenige der Abschriften. Deren Verleger sind vor allem in Paris und London angesiedelt, den beiden Städten, in denen Haydns Sinfonien durchschlagenden Erfolg hatten, einerseits weit von seinen Wirkungsorten entfernt, andererseits Zentren des Notendrucks. Aber bis auf einzelne Ausnahmen sind es Verlage, die schon eine größere Anzahl von Sinfonien Joseph Haydns veröffentlicht hatten, unter die sich verhältnismäßig wenige Sinfonien anderer Komponisten unter Haydns Namen mischen. Im Fall der Manuskripte lässt sich eine internationale Verbreitung über höfische und Klosterbibliotheken nachzeichnen. In vielen Fällen zeigt sich, dass mehrere Drucke und Manuskripte von einer einzigen Fehlzuschreibung abhängig sind. Die Anzahl der Fehlzuschreibungen relativiert sich zudem dadurch, dass viele von ihnen auf Haydn-Forscher des 19. und 20. Jahrhunderts zurückgehen. Sie sind ein historiographischer Beleg für eine auf „große Meister“ zentrierte Musikwissenschaft. Durch eine minutiöse Analyse des Quellenkorpus ergibt sich ein vielschichtiges Bild, das nicht mehr ausschließlich auf Haydn konzentriert ist, sondern weitreichende Erkenntnisse über die Vernetzung des europäischen Musiklebens und Verlagswesens ermöglicht.
Der interessierten Öffentlichkeit wurde das Forschungsprojekt erstmals im Rahmen einer Buchpublikation vorgestellt. Unter dem Titel »Original und Fälschung? Umstrittene Autorschaft in Musik und Kunst« (https://verlag.koenigshausen-neumann.de/product/9783826095498-original-und-faelschung/) erschienen zwölf wissenschaftliche Beiträge, die im Sommersemester 2023 an der Hochschule für Musik und Tanz Köln in einer Vortragsreihe präsentiert wurden. Dabei ergab sich ein intensiver Austausch mit den angrenzenden Disziplinen der Kunst-, Literatur-, Medien- und Rechtswissenschaft über den Stellenwert der Autorschaft und die vielfältigen Herausforderungen der Urheberidentifizierung.